Das Brot der Armut (kartoniertes Buch)

Die Geschichte eines jüdischen versteckten Kindes
ISBN/EAN: 9783868410341
Sprache: Deutsch
Umfang: 340 S.
Einband: kartoniertes Buch
Der Vater ist Arzt. Er arbeitet tagsüber im großen Krankenhaus der Stadt. Am Spätnachmittag bis in die Nacht hinein empfängt er seine Privatpatienten. Nicht alle sind reich. Beileibe nicht. Viele kommen zu Dr. Kowalski, gerade weil sie kein Geld haben und sich außer ihm niemand um sie kümmert. Ihm zur Seite steht seine Schwester. Rachel hat eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert, denn sie möchte so schnell wie möglich auswandern. Mit ihrem Beruf dürfte es ihr keine Schwierigkeiten bereiten, in Jerusalem Arbeit zu finden. Und dann ist da noch Zelda Kowalski, geborene Nussboim, die verwöhnte Tochter der Pelzhändler Rosa und Natan, ehemals aus Zamosz. Ihre letzten Jahre verbringen die beiden bei Tochter und Schwiegersohn in dem großen Haus bei der Nozych Synagoge in Warschau. Das ist der Rahmen, in den Keren Kowalski hätte hineingeboren werden sollen, wenn. ja, wenn da nicht eines Tages die Deutschen gekommen wären und diese wunderschöne, heile Welt mit einem Schlag zerstörten.
Dann ist es soweit. Zelda Kowalski schickt sich an, ein Kind in die Welt zu bringen. Sie räumen eine Ecke des Wohnzimmers frei, sodass Dr. Kowalski und seine Schwester Rachel sich ungestört zwischen Wohnzimmer und Küche, wo Ella über große Mengen von kochendem Wasser wacht, bewegen können. Es dauert und dauert. Anscheinend fürchtet das Baby sich davor, die Geborgenheit des Mutterleibs zu verlassen und in die kalte Welt hinauszutreten. Es dauert und dauert. Dr. Kowalski kann nichts tun, um seiner Frau zu helfen, die Schmerzen zu lindern oder die Geburt zu beschleunigen. Er sitzt neben ihrem Bett, hält ihre Hand, streicht ihr den Schweiß von der Stirn und freut sich wie alle, wenn sie vorübergehend in einen leichten Schlummer fällt, aus dem sie dann mit einem Aufschrei erwacht. Wieder Wehen und noch einmal Wehen. Sie wollen nicht aufhören. Am vierten Chanukka-Tag ist es dann endlich soweit: ein Mädchen, ein wunderbar zartgliedriges kleines Mädchen hat sich von seiner Mutter gelöst und kündet seine Ankunft in der Welt mit einem kräftigen Schrei an. Zelda lächelt glücklich, als Dr. Kowalski ihr das Mädchen in die Arme legt. "Meine Keren, Keren Or, mein Lichtstrahl", flüstert sie leise. "Das soll ihr Name sein, ja?" Bittend blickt sie ihren Mann an, der sich beeilt, ihrer Bitte zuzustimmen. "Ja, natürlich, Keren, Keren Or soll sie heißen. Das passt genau zu Chanukka. Licht wird sie in die Welt bringen. Licht und Liebe." Alles scheint in schönster Ordnung, gäbe es da nicht ein Problem: Zelda Kowalski blutet und blutet, sodass Dr. Kowalski ihr untersagt, das Bett zu verlassen. Er erhöht das Fußende und verbraucht Verbandsmaterial am laufenden Meter, das sind die Bettlaken, die Ella in den Schränken findet, alles, um dieses Bluten zu stoppen. Es scheint sich auch zu beruhigen. Zelda stillt ihr Kind, das zwischendurch immer friedlich schläft und nur ganz selten weint. Schon glauben alle, dass die Blutungen aufgehört haben, dass Zelda Kowalski sich von der Entbindung erholt hat. Zum ersten Mal darf sie aufstehen. Nach ein paar Schritten öffnet sich ihr Inneres, und Blut strömt aus ihr heraus wie aus einem offenen Wasserhahn. Er lässt sich nicht wieder zudrehen. Nicht, als Dr. Kowalski sie auf das Bett legt, mit erhöhtem Fußteil und mit Verbandsmaterial. "Meine Keren! Wo ist meine Keren?" Zelda Kowalski öffnet die Augen und blickt ihr kleines Mädchen an. Dann ist es aus. Behutsam nimmt Rachel Kowalski der toten Frau das kleine Mädchen aus dem Arm und legt es in sein Bett. Dr. Kowalski ist verzweifelt. Seine Zelda, seine Zelda ist tot, unter seinen Händen gestorben, ohne dass er, der bekannte Warschauer Arzt das hätte verhindern können! Stumm und starr sitzt er am Bett seiner toten Frau und bemerkt nicht, was um ihn herum vor sich geht. Rachel Kowalski und Henryk stehen flüsternd in einiger Entfernung vom Bett mit der toten Frau. "Wir müssen sie beerdigen! So schnell wie möglich!" bestimmt Rachel. "Die Waschung mache ich zusammen mit Ella." "Aber, sie ist.", protestiert Henryk. "Wen sonst habe ich? Du kannst mir auf keinen Fall helfen. Du weißt doch: Frauen für Frauen und Männer für Männer. Diese Ehre wollen wir meiner Schwägerin doch erweisen. Zelda wird mir verzeihen, dass ich eine Schickse nehme. Es gibt sonst niemanden." Henryk geht aus dem Haus, holt sich einen Spaten aus dem kleinen Unterstand und beginnt, in dem gefrorenen Boden am Rand des Hofes ein Grab auszuheben. Rachel nimmt mit Ella die letzte Waschung vor. Als Krankenschwester hat sie mehr als einmal Gelegenheit gehabt zu sehen, wie sie vor sich geht. Zwar kann sie nicht alle nötigen Segenssprüche dafür auswendig, sagt aber diejenigen, die sie kennt, mit umso größerer Inbrunst. Zum Schluss hüllen sie Zelda Kowalski in ein großes weißes Laken und legen sie auf eine Trage, die Henryk draußen zusammengezimmert hat. Am Ende der Beerdigung reißt sich Dr. Kowalski sein Hemd über der Brust ein, Rachel folgt seinem Beispiel und reißt ihr Kleid auf der rechten Seite ein.