Süßigkeiten (kartoniertes Buch)

Erzählungen
ISBN/EAN: 9783630621463
Sprache: Deutsch
Umfang: 206 S.
Einband: kartoniertes Buch
Nicht lieferbar

Dieser Artikel ist zur Zeit nicht lieferbar.

Modernes Liebesalphabet: über Männer und Frauen, die die Orientierung verlieren ''Die beste Novellensammlung, die ich seit langem gelesen habe ... fünfzehn lakonisch erzählte, aber gerade daher so anrührende Geschichten über den modernen Menschen. Sie handeln von Männern und Frauen, die in ihren brüchigen, unsicheren Liebesbeziehungen eingesperrt sind, in denen sich permanent Risse zeigen, wo eigentlich Vertrauen herrschen sollte ... Sie handeln von Untreue, von der Angst vor Anforderungen und der Jagd nach dem eigenen Vorteil. Und sie handeln davon, wie verletzlich das ganze System ist. Wie leicht kommt es zu Kratzern in der glatten Oberfläche, und ein Abgrund von Wahnsinn tut sich auf ...'' Berlinske Tidende Ausgezeichnet mit dem Nordischen Literaturpreis.
Am Bulbjerg Plötzlich fanden wir uns in einer überraschenden Landschaft wieder: leuchtende, weiße Sandhügel nach allen Seiten, windgebeugte kleine Bäume, die sich unter einem mächtigen, hohen Himmel duckten. Wir schnappten beglückt nach Luft, so als wären wir eben aufgetaucht und viel zu lang unter Wasser gewesen. Wir blieben stehen und sahen uns um, und blinzelten mit den Augen, weil wir den Blick so lange auf den Kiesweg und das Dunkel des Waldes gerichtet hatten. Selbst der Geruch war hier anders, salzig und frisch, das Meer konnte nicht weit sein. Dabei hatten wir längst die Orientierung verloren. Wir fuhren im Kreis. Es war warm. Wir hatten einen sechsjährigen Jungen und einen Dackel dabei. Die Räder waren alt und verrostet, wir riskierten eine Reifenpanne, das war klar. Wir hielten inne und lauschten. Das Laub raschelte leise im Wind, die Vögel sangen, ein einziger schrie, heiser und verzweifelt, wie um sein Leben. Sebastian schaute mich ängstlich an. »Das ist bloß ein Mäusebussard. Davor brauchst du keine Angst zu haben.« »Komm mal her, Seba. Möchtest du einen Keks?« Du riefst den Jungen mit angestrengter Sanftheit, und ich ertappte mich dabei, wie ich, mit überspitzter und übertrieben ängstlicher Bewegung, den Kopf drehte, um zurückzublicken. Hinter uns lag der Wald, aus dem wir kamen, so schwarz und still wie ein tiefer See. Vor uns erstreckte sich der Pfad durch eine Art Birkenhain, dann folgte wieder dichter Nadelwald, Moos, Heidekraut und umgestürzte grauschwarze Stämme, deren geknickte Äste wie Stacheln abstanden. »Ich habe müde Beine«, klagte Sebastian. Dann brach er zusammen; die schmutzigen Hände bedeckten das Gesicht, die Schultern bebten. Du nahmst ihn auf den Schoß. Ihr saßet nun im Gras, und du wiegtest ihn hin und her, während er weinte. Du blicktest mich mit großen, besorgten Augen an. Ich starrte zurück. »Was ist?«, sagte ich. »Nichts«, sagtest du und strichst dem Jungen über den Kopf, »in vier, fünf Stunden wird es dunkel.« »Und? Was soll ich jetzt machen?« Du hast geseufzt. Ich legte mich hin, die Arme unter dem Kopf. In zwei Wochen wird Sebastian sieben. Im August kommt er in die erste Klasse. Er hat sich seit seiner Geburt eigentlich wenig verändert. Dieselbe leicht besorgte Miene, die kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Ein Überbiss deutet sich an. Da kommt noch was auf uns zu, Zahnspange, Nackenzug, das volle Programm. Ich schlage die Augen auf, du stehst über mir und siehst hasserfüllt auf mich herab. Vielleicht hast du schon einige Minuten so gestanden. »Wollen wir nicht mal langsam weiterkommen?«, sagst du. Ich setze mich auf und merke, wie müde ich bin. Schlappe Arme und ein erdrückendes Gefühl von Schwäche im ganzen Körper. Der Wasserkanister ist leer. Der Hund hechelt, die Zunge hängt ihm aus dem Maul. Du setzt ihn in den Karton auf dem Gepäckträger. Sebastian nimmt tapfer sein Rad auf und fährt vorneweg. Bei jedem Loch auf dem Weg läutet seine Klingel, und der Wimpel, auf den er so stolz war, als ich ihn am hinteren Schutzblech befestigte, sieht mit einem Mal billig und schäbig aus. Schweigend fahren wir weiter. Immer wenn wir an einen Kreuzweg kommen, schaust du mich fragend an, dabei bin ich doch hier nicht der Ortskundige, und jedes Mal sagst du dann irgendetwas in der Art wie: »Ich glaube, wir müssen nach rechts. Den Holzstoß da hab ich doch schon mal gesehen.« Dann biegen wir ohne ein Wort nach rechts ab, bis sich Sebastian auf den Boden wirft und anfängt zu heulen und zu schreien. Er ist total hysterisch. Wenn wir ihm zu nahe kommen, fängt er an zu treten. Du versuchst es auf die sanfte Tour, ich auf die harte. Am Ende schüttele ich ihn richtig durch und brülle ihn an, er solle sich endlich beruhigen, wenn nicht, führen wir ohne ihn weiter, dann könne er hier liegen bleiben und bis in alle Ewigkeit weiterbrüllen, bis der Bussard ihn irgendwann hole. Ich bereue sofort meine Worte und lasse ihn los, er heult und klammert sich an meine Beine. Du sitzt auf einem Baumstum