Heile Welt (kartoniertes Buch)

Roman
Verlag:
ISBN/EAN: 9783442726509
Sprache: Deutsch
Umfang: 480 S.
Einband: kartoniertes Buch
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Ein kleines Heidedorf in den 60er Jahren: Matthias Jänicke, Lehrer und nicht mehr ganz jung, tritt seine erste Stelle an. Das gemächliche Landleben behagt ihm durchaus. Idyllische Impressionen lassen ihn, zumindest eine Zeitlang, an eine heile Welt glauben. Doch der schöne Schein trügt. Schon bald muß er erkennen, daß fast jeder Dorfbewohner etwas zu verbergen hat. Mißgunst und kleine Skandale sind an der Tagesordnung, werden jedoch vor dem Fremden sorgfältig verborgen. Der dörfliche Mikrokosmos widersetzt sich allen Versuchen des Lehrers, in dessen Inneres vorzudringen. So bleibt er der geduldete Beobachter, dessen Alltag zwischen zufälligen Liebeleien, Schulstunden und gelegentlichen Jagdausflügen verrinnt. Dabei käme es für ihn jetzt wirklich darauf an: Es ist bereits sein dritter Anlauf, eine bürgerliche Existenz zu gründen.
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.
An einem kalten Apriltag des Jahres 1961 hielt ein Schienenbus der 'Kreuzthaler Kreisbahn AG' auf dem Bahnhof Kreuzthal. Der Wind pfiff über den Bahnsteig, auf dem zwischen zwei Reihen schiefgewachsener Rotdorne in Augenhöhe ein schwarz umrandetes Schild angebracht war: 'Kreuzthal'. Unter diesem Schild, mit Bindfaden festgebunden, hing ein Stück Pappe: 'Achtung! Frisch gestrichen!' Ein junger Mann stieg aus dem Schienenbus - linke Hand am linken Griff -, er faßte den sich aufblähenden Staubmantel mit der rechten und guckte sich um, 'leicht amüsiert': was das für ein Nest ist, in dem er hier gelandet ist.'Beim Deibel auf der Rinn bin ich', dachte er und zog seinen Koffer aus dem Bus. Aber das war es ja, was er gewollt hatte: alles hinter sich lassen und ganz neu anfangen. Es mit Kindern zu tun kriegen, auf einem Dorf, das würde ihm guttun nach den Enttäuschungen seines Lebens. Je verrotteter die Schule sein würde, an die man ihn versetzte, um so besser würden sich seine kleinen Talente entfalten können.Matthias Jänicke hieß er, und der Name hatte ihm schon viel Verdruß bereitet. 'Jänicke?' fragten die Leute. 'Ohne h, aber mit ck.''Ja, aber wie denn nu?' wurde dann gesagt.Es war auch schon geschehen, daß man ihn 'Jähnisch' genannt hatte. Die Abkunft des Namens von 'Jahn' riß vieles wieder heraus.Das kleine freundliche Bahnhofsgebäude mit Rotdornallee hatte ein Bremer Architekt entwerfen und bauen dürfen, ein Vertreter des Jugendstils, obwohl der ortsansässige Maurermeister das genauso gut hingekriegt hätte, wie immer wieder gesagt wurde. Der Schankraum des Bahnhofs war die Oase von Landarbeitern, die sich in den Kreuzthaler Gasthöfen nicht so gern vollaufen ließen. Hier draußen waren sie weit vom Schuß. Er war mit Stirb-und-werde-Möbeln ausgestattet worden und mit einem von Hand gemalten Heidebild an der Wand. Der Lagerschuppen des Bahnhofsgebäudes war mit grünen Schiebetüren versehen. Hier hatte schon mal ein Sarg gestanden, die Leute erinnerten sich noch daran. Und hier war 1944 ein unrasierter Mann aufbewahrt worden, der in das Moorlager Emsthal überstellt werden sollte. Auch das wußten die Leute noch. Das war damals nicht recht gewesen, das hätte nicht sein dürfen, aber man hatte es nicht verhindern können.Unter dem stuckverzierten Giebel des kleinen Bahnhofs war ein Spruch angebracht, von gleicher Hand entworfen wie das M und F der Klos:Wie de Tied, so ändern sick de Lüd!Vor dem kleinen Bahnhof stand ein Dieselölfaß, mit Schlauch und Plastiktrichter. Aus diesem Faß wurde, wenn nötig, der Schienenbus betankt, mit Handpumpe, zick-zack. Ein schwarzglänzender Ölschatten hatte sich auf dem Schotter rundherum gebildet: für Archäologen in fernen Zeiten ein sicheres Indiz dafür, daß hier einmal Menschen gewohnt hatten. Neben der Schlachtviehrampe war ein Lkw-Anhänger abgestellt, beladen mit ineinandergeschobenen grünen Heuwendern, nagelneu, für den örtlichen Landhandel bestimmt, ein Rätsel, wieso sie nicht längst abgeholt worden waren und verkauft. Einmal in Gebrauch genommen, würden sie schnell ihr festliches Aussehen verlieren. Ein einziges Mal den Acker hoch und runter - aus ist es mit der Herrlichkeit. Matthias ging nach vorn zum Schaffner. Der schnallte ihm das Fahrrad ab, das draußen am 'Molly' hing, und dann notierte er es auf einem Schreibbrett, daß er das getan hat, das Rad abschnallen und dem Einlieferer aushändigen. Ein neues Rad war das, Marke Herkules, mit Packtaschen am Gepäckträger, die Lederschnallen noch steif. Viergangschaltung und ein Kilometerzähler, den man mit der Hand auf Null drehen konnte.Es war auch eine junge Frau ausgestiegen, in hellem Tuchmantel, das Kleid darunter schwarz. Sie wirkte hier fremd, aber sie kannte sich aus, denn sie ging geradewegs auf ein kleines Auto zu, das neben der Viehrampe abgestellt war, einen FIAT 500, mit Püppchen am Rückspiegel. - Eine randlose Brille trug sie, und sie wirkte etwas unbeholfen wegen dieser Brille, aber doch auch lustig. Das kam wohl von ihrem kurz gekräuselt