Der Ginsengjäger (kartoniertes Buch)

Roman, Sammlung Luchterhand
ISBN/EAN: 9783630621364
Sprache: Deutsch
Umfang: 192 S.
Einband: kartoniertes Buch
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Poetisch, ergreifend, erhellend An der Grenze zwischen China und Nordkorea lebt einer der letzten Ginsengjäger, der die Kunst, diese seltene und wertvolle Wurzel aufzuspüren, von seinem Vater gelernt hat, wie dieser wiederum von dem seinen. Der schon ältere Mann führt ein bescheidenes Leben, nur einmal im Monat verlässt er seine Hütte im Wald, um in der nächstgelegenen Stadt einzukaufen und das dortige Bordell zu besuchen. Als er sich in eine junge Prostituierte verliebt, die aus Nordkorea hierher geflohen ist, bekommt seine festgefügte kleine Welt Risse, und er muss schwerwiegende Entscheidungen treffen-... Eine bewegende Geschichte über Menschen, die an der Grenze leben - an der Grenze zum Nichts und an der Grenze zum Glück.
Jeff Talarigo wurde in Pennsylvania geboren und arbeitete nach seinem Literaturstudium als Journalist. Anfang der 90er lebte er ein halbes Jahr in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Gazastreifen; seine Kurzgeschichten über diese Erfahrung sind in verschiedenen literarischen Magazinen veröffentlicht. 1993 zog er nach Japan. Für seinen ersten Roman "Die Perlentaucherin" erhielt er den Richard and Hinda Rosenthal Award, der von der American Academy of Arts and Letters verliehen wird. Während der Arbeit an seinem zweiten Roman "Der Ginsengjäger" lebte er auf der chinesischen Seite der Grenze zwischen Nordkorea und China und interviewte dort Ginsengjäger und nordkoreanische Flüchtlinge. Zurzeit ist er Stipendiat des New York Public Library's Cullman Centre for Scholars and Writers.
Der Fluss entspringt in einem Land, dann fließt er in ein anderes. Aus dem nordkoreanischen Hamgyong-Gebirge und dem chinesischen Nangang fließen kleine Flüsse und Bäche in den Tumen, und wie viele Flüsse, die tief in den Bergen entspringen, ist auch der Tumen unberechenbar, bald kopfhoch, bald knöcheltief, fast einen Kilometer breit oder fünfzig Meter schmal, je nach Jahreszeit. Er ist ein ruheloser Fluss. Schon bald lässt er die Bimssteinkuppen der Berge hinter sich, vergisst seine bescheidenen Anfänge und wird zum tosenden Wildwasser, und bei Tauwetter im Frühling überschwemmt er manchmal alle Pflanzen, die ihm im Weg stehen. Eschen und Lärchen und Weißbirken, eine Kiefernfamilie - Koreanische, Weiß- und Sandkiefern. In den ersten Monaten des Jahres nehmen die Berge im Osten dem Fluss fast bis Mittag die Sonne weg, nur ein paar Stunden bekommt er direktes Licht, bis die Berge im Westen es ihm dann für den Rest des Tages wieder stehlen. Bis Ende April ist der Fluss zugefroren, er schüttelt den Winter später ab als das umliegende Land, dieses raue Tal der Grenzregion. An der chinesischen Grenze steht in diesem ersten Frühling des neuen Jahrhunderts ein Ginsengjäger allein am Ufer und betrachtet den Fluss. Es tut nichts, dass der Fluss zugefroren ist, vielleicht ist es besser so, denn so war es auch letztes Frühjahr, als das Tal sich in einen Ort zu verwandeln begann, den er nicht mehr wiedererkennt. Der letzte Frühling des alten Jahrhunderts Hoch oben im Nadelwald blicken die Mammutbäume mit ihren Leibern, so gerade wie der Hals einer Ginsengwurzel, auf mich herab; ihre zarten hellgrünen Blätter sitzen an Stummelarmen. Ich komme mir winzig vor. Dieser Morgen in der ersten Woche der Jagdzeit ist wie jeder andere Morgen. Nur zwischen den riesigen Mammutbäumen, anderthalbtausend Meter über meinem Hof, kann ich die Sorgen beiseiteschieben, die mich auf dem Weg aus dem Tal herauf begleitet haben. Ich verlangsame meinen Gang zu dem eines Jägers. Manchmal schaffe ich kaum hundert Meter in einer Stunde. Halte ich zu angestrengt Ausschau nach der Wurzel, übersehe ich sie womöglich, auch wenn ich direkt vor ihr stehe; lasse ich dagegen zu, dass meine Gedanken sich zerstreuen wie Löwenzahnsamen in einem frischen Lüftchen, dann ruft die Wurzel nach mir. Vorsichtig bewege ich mich auf dem Pfad, denn ich weiß, dass unter dem Waldboden ein erbitterter Krieg tobt. Was man über der Erde sieht, mag heiter in sich ruhen, darunter aber kämpfen die Wurzeln und Kräuter ums Überleben, machen einander Wasser, Eisen und Kupfer, Kalk und Magnesium streitig. Tag für Tag. Blutwurz und Springkraut, Diapensien und Leberblümchen, Ingwer und wilde Süßkartoffeln. Und der Ginseng muss mit ihnen allen konkurrieren. Diese ständige Spannung ist es, die der Ginsengwurzel ihr knorriges Aussehen verleiht - die Runzeln sind eher ein Zeichen von Charakter als von Alter. Daher ist jede reife Wurzel, die ich finde, ein Triumph, ein Überlebenszeichen. Dies ist meine Religion: Alles, was ich der Natur nehme, muss ihr zurückgegeben werden, damit der Zyklus des Lebens nicht unterbrochen wird. Im Nadelwald ziehen die Wurzeln Kraft aus dem Himmel und aus der Erde. Erst wenn der Mensch die Ginsengwurzel zu sich nimmt, schließt sich der Kreis. Ich bleibe mitten auf dem Pfad stehen, und aus fünf, sechs Schritt Entfernung sehe ich eine Pflanze, dreißig Zentimeter hoch. Sie ist jung, weniger als zehn Jahre alt, aber älter als die sieben Jahre, die sie bis zur Reife braucht. Über den Fund bin ich genauso begeistert wie früher als Junge. Auch meine Technik ist dieselbe geblieben: Ich sehe mir die Pflanze genau an, überlege, wie ich mich ihr am besten nähere, schätze den Winkel und die Größe des Kreises ab, den ich um sie herum graben muss, und mache eines der an meinen Gürtel geknoteten roten Tücher ab. Dabei behalte ich die Wurzel ständig im Auge, so als könnte sie jeden Moment davonhuschen. Dann stecke ich neben der Wurzel ein Stöckchen in die Erde und binde da