Speichelfäden in der Buttermilch (Paperback)

Gesammelte Werke I
ISBN/EAN: 9783608504040
Sprache: Deutsch
Umfang: 698 S.
Einband: Paperback
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ERINNERUNGEN Als wir noch nicht von Funk und Fernsehen kaputtgemacht geworden sind Als wir noch nicht von Funk und Fernsehen kaputtgemacht geworden sind, hielten wir uns oft in Hallenbädern auf, gegenseitig. Wenn einer irgendwas vorhatte, hielt der andere ihn auf. Wir kamen aber selbstverständlich nicht wie die anderen Badegäste zum Schwimmen ins Hallenbad, sondern um Handtücher zu gucken. Wir trugen uns nämlich schon seit Jahren intensiv mit dem Gedanken, uns selbst ein Handtuch zu kaufen, ein kleines. Große kamen nicht in Frage, man wirft ja nicht sein Geld zum Fenster raus! Nein, nein, so eine Geldanlage wollte wohlüberlegt sein. Dar um kauften wir erst einmal ein Jahresabo für das Hallenbad, um uns ungestört verschiedenste Handtücher in Aktion ansehen zu können. Da gab es blaue, rote, weiße und wieder rote! Leider half es nichts, nach drei Jahren täglichem Hallenbadbesuch gaben wir's auf. In der Zwischenzeit war uns ein richtiger kleiner Hallenbart gewachsen. Bis heute konnten wir uns für kein kleines Handtuch entscheiden. Das akute Problem des Sich-Abtrocknens lösten wir auf eine sehr konventionelle Art: wir kauften uns einfach ein Tier mit einem Fell, an dem wir uns trockenreiben konnten. Wir entschieden uns nach 23 jähriger Debatte für einen Kompromiss, und zwar: einen Kolibri. Nach dem Duschen also nahmen wir den Kolibri aus seinem vorgewärmten Käfig und rubbelten uns mit ihm unsere Körper trocken. Der Schnabel schmerzte manchmal sehr, aber das größere Problem war, dass, wenn einer sich trockengerieben hatte, das arme Tier ja klitschnass war, sodass sich der andere mit dem nassen Kolibri abtrocknen musste, und sich mit einem nassen Kolibri abzutrocknen ist - sind wir uns ehrlich - fast unmöglich. Also musste ein zweiter Kolibri her. Es gab aber keinen mehr im Tiergeschäft, also nahmen wir einen Fisch, aus Sparsamkeitsgründen den billigsten, den wir kriegen konnten, eine alte Sardine. Aber auch die Sardine hatte abtrocknungstechnisch, um ein Modewort zu benutzen, ihre Tücken. Denn trocknete man sich mit der Sardine ab, stank man nach Fisch, sodass man noch einmal duschen musste, in der Hoffnung, dass dann der Kolibri frei war, respektive trocken. Uns blieb nichts anderes übrig, obwohl wir am Hungertuch nagten, als ein drittes Tier zu kaufen, eine Wasserschildkröte. Da aber gab es wieder einen ganzen Köcher an Problemen, denn die Wasserschildkröte lebt ja im Wasser; will man sich mit ihr abtrocknen, muss man sie selbst zuerst einmal abtrocknen! Wir fanden Gott sei Dank einen cleveren Dreh. Wir holten die Wasserschildkröte aus dem Bassin, trockneten sie mit der Sardine ab, die wir vorher mit unserem Hungertuch gerieben hatten, und zwar trocken, aber sowas von! Mit der Sardine rieben wir die Wasserschildkröte trocken, die dann natürlich nach Fisch stank, sodass nicht mehr an ein Abtrocknen unserer nassen Körper zu denken war. Wir kauften uns notgedrungen und zähneknirschend mit hängenden Schultern und Wasser in den Beinen ein viertes Tier, ein sogenanntes 'Handtuch', mit dem es bis heute keine weiteren Probleme gab. Vielleicht kaufen wir uns irgendwann wieder einmal einen Kolibri, aber vorher, vorher lassen wir uns noch ordentlich von Funk und Fernsehen kaputtmachen. Als wir noch nicht von Funk und Fernsehen kaputtgemacht geworden sind, trugen wir Hundekostüme und machten oft am Straßenrand ein Häufchen Elend. Wir arbeiteten als lebende Litfaßsäulen für ein Chinarestaurant, deswegen die Hundekostüme. Die Spezialität war Hund in Essig. Der Hund lebte und war auf einem lebensgroßen Tablett festgebunden, dann wurde Essig über ihn gegossen. Kniehoch stand der Hund im Essig, dann wurde serviert. Das Gericht galt als Köstlichkeit. Mit lebensgroßen Löffeln schlurft en die Gäste den Essig, der Hund war reine Zierde. Unsere Aufgabe war es, nach dem Abräumen des Tabletts die Hunde zu waschen. Die Hunde stanken sehr nach Essig, bis heute fragen wir uns nach dem Grund. Wir vermuten, die Hunde stanken deshalb nach Essig, weil Essig über sie gegossen worden war. Wahrscheinlicher aber ist, dass Hunde schon mit diesem Essiggeruch auf die Welt kommen. Aber wer kann das schon sagen in einer Zeit, in der es allein in Deutschland fast fünf Millionen Arbeitslose gibt? Wir lebten mit den Hunden in einer Wohnung, die keine Decke hatte, keinen Boden, kein Klavier, keine Lampe, keine Schreibutensilien und keine Lade, wo die Socken drin sind. Kurz, wir lebten im Freien. Wir lebten wie Waterloo und Robinson auf dieser Insel, ganz ursprünglich mit langen Haaren und langen Fingern, wir haben viel gestohlen damals. Aber nur Sachen, die uns gehörten. Überall stank es nach Essig. Wir hielten uns gegenseitig die Nase zu. Auf die Idee, dass sich jeder selbst die Nase zuhalten könnte, kamen wir nicht. Aber wer kommt schon auf solche Ideen in einer Zeit, in der der Faktor Menschlichkeit viel zu lang kommt? Wir hassten alles damals, vor allem Hunde, Essig und das Leben im Freien. Dass wir selten gute Laune hatten, steht auf einem anderen Blatt Papier, das erst noch geschrieben werden muss. Obwohl wir im Freien wohnten, legten wir großen Wert auf Etikette. Kamen die Hunde nachhause, mussten sie sofort die Schuhe ausziehen und beten. Auch wir falteten unsere Hände und machten aus ihnen so kleine japanische Ziervögel und Schi e. Das freute die Hunde, um nicht zu sagen, dass die Hunde eine Mordsgaudi hatten. Natürlich rochen auch unsere Hände nach Essig, das trübte die Freude, die wir uns aber nicht nehmen ließen. Die Hunde träumten davon, ein Musical aufzuführen, nämlich 'Cats', deswegen mussten wir 43 Katzenkostüme nähen. Und tatsächlich: nach einer Probezeit von zwei Monaten kam es zu einer interessanten Vorstellung. Die Hunde nahmen es uns krumm, dass wir in einem Leserbrief an eine Lokalzeitung die Au ührung zerrissen. Es kam zu Schlägereien und wüsten Beschimpfungen: 'Sahara, du Trottel. Gobi, go home!' Gott sei Dank starben die Hunde dann an Katzenpest. Wir legten sie in Essig ein und begruben sie. Der Job im Chinarestaurant hatte sich somit erledigt. Wir gaben pflichtbewusst unsere Hundekostüme zurück und mit einer Frühlingsrolle rückwärts verließen wir fröhlich pfeifend das Lokal. Auf zu neuen Abenteuern! Vielleicht arbeiten wir irgendwann mal wieder in einem Chinarestaurant, aber vorher, vorher lassen wir uns noch ordentlich von Funk und Fernsehen kaputtmachen. Als wir noch nicht von Funk und Fernsehen kaputtgemacht geworden sind, waren wir regelmäßig in der ganzen Welt mit Kind und Kegel unterwegs. Da wir aber keine Kinder und Kegel hatten, ganz zu Schweigen von Geld um zu verreisen, saßen wir immer nur allein zuhause und hörten Musik von Leonardo da Vinci. Da Leonardo da Vinci aber niemals in seinem Le ben komponiert hat, hörten wir nichts. Eine gegrillte kleine Garnele war unser einziges Haustier damals. Jahrelang bemühten wir uns, ihr Pfötchengeben beizubringen, aber das schaffte es nicht, dieses kleine gegrillte Mistvieh. Die Garnele konnte überhaupt nichts, außer ein paar Fremdsprachen, einen dreifachen Flickflack am Trampolin und mit den Händen bezaubernde Schattenspiele an die Wand werfen. Außerdem war sie zu ausdauerndem Geschlechtsverkehr fähig, die kleine gegrillte Garnele. Wir konnten das alles nicht. Dafür konnten wir beide Pfötchengeben, so wurden wir drei ein perfektes Team. Wenn Frauen zu Besuch kamen, gaben wir beide Pfötchen, und die kleine gegrillte Garnele vögelte mit dem Besuch bis weit nach Mitternacht. Am Morgen gaben wir artig Pfötchen und verabschiedeten die Damen, während die kleine gegrillte Garnele im Schlafzimmer Salti machte, Fremdsprachenkurse für ausländische Mitbürger gab, was von uns immer wieder kritisiert wurde. Denn sinnvollerweise hätte sie ausländischen Mitbürgern Deutsch beibringen sollen oder Inländern Fremdsprachen. Aber ach, wir trauten uns nichts zu sagen, sondern gaben immer nur brav Pfötchen. Die kleine gegrillte Garnele hatte uns völlig in der Hand, sie war ein Despot. Immerhin sorgte sie für...


'Der heißeste Scheiß aus Wien!' Marcel Reich-Ranicki