Nach den Utopien (gebundenes Buch)

Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
ISBN/EAN: 9783552053014
Sprache: Deutsch
Umfang: 312 S.
Einband: gebundenes Buch
Eine neue Generation deutschsprachiger Schriftsteller hat sich in den neunziger Jahren etabliert und sowohl die Literatur als auch das literarische Leben des vereinigten Deutschland wesentlich verändert. Helmut Böttiger, lange Jahre Redakteur der "Frankfurter Rundschau" und nun Autor und Kritiker in Berlin, wagt jetzt als Erster einen Überblick, der von der Wende bis in die Gegenwart reicht. Eine erste, überzeugende Bilanz der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit der Wende - pointiert und eloquent präsentiert.
Helmut Böttiger, geboren 1956 in Creglingen, studierte Germanistik in Freiburg. Bis 2001 Feuilletonredakteur der Frankfurter Rundschau, jetzt Kolumnist und Kritiker. Zuletzt erschienen: Rausch im Niemandsland. Es gibt ein Leben nach der DDR und bei Zsolnay Orte Paul Celans (1996) und Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2004).
Leichte Verfehlungen. Zeitungsschreiber werden DichterIn letzter Zeit häufen sich die Quantensprünge. So hat sich auch etwas, was früher ein unüberbrückbarer Gegensatz zu sein schien, angenähert und ist zu ein- und demselben Phänomen geworden: der Kritiker auf der einen, der Schriftsteller auf der anderen Seite. Sie ähneln sich immer mehr, weil sie beide vor allem als Journalisten wahrgenommen werden. Auch die Literatur funktioniert heute zu weiten Teilen wie der Journalismus, und ein Journalist, der einen Roman schreibt, wird nicht mehr verachtet und verhöhnt, sondern wegen seinem Schreiben geschätzt. Diese Entwicklung hat sich binnen kurzer Zeit vollzogen. Es liegt noch gar nicht so lange zurück, da waren profilierte Journalisten wie Fritz J. Raddatz mit Romanen darauf aus, die spezifisch deutsche Kluft zwischen Kritiker und Schriftsteller zu überwinden; sie glaubten, die Zeit wäre dafür reif. Aber der alte deutsche Kulturreflex war nach wie vor da: Die Romane wurden verrissen, und es mischte sich fast immer ein besonders spitzer Ton darunter, der dem Journalisten galt, der da einen unzulässigen Genrewechsel, eine unerlaubte Grenzüberschreitung vollzogen hatte. In anderen, vor allem in den angelsächsischen Ländern gibt es diese deutliche Trennung nicht. Da wechseln die Autoren spielerisch vom lyrischen ins kritische, vom essayistischen ins erzählende Fach, und die Rezensionen in Zeitungen werden wie selbstverständlich von Schriftstellern selbst geschrieben. Der deutsche Sonderweg mag an der besonderen Weihe liegen, die das Literarische im Bildungsbürgertum erhalten hatte, mit der Trennung von Künstlertum und Politik, Träumern und Pragmatikern. Und mit der Position des Kritikers, des Zuchtmeisters und im Idealfall unabhängigen Richters - auch dies ein Typus, der sich unter den speziellen deutschen Bedingungen herausgemendelt hatte. Da spielt die Sehnsucht nach Autorität eine Rolle, aber auch das Bedürfnis, die Literaten fest im Reich der Phantasie und der Ideale gebannt zu halten, aus dem man sie nur an hohen Festtagen und unter besonderer Aufsicht entläßt. In den Verlagsprogrammen der letzten drei, vier Jahre wimmelt es nun aber von deutschen Debütanten, bei denen mit ihrer journalistischen Praxis geworben wird, da geht es um das Magazin der Süddeutschen Zeitung oder die Berliner Seiten der FAZ, vom frühen Tempo und von der taz ganz zu schweigen. Selbst Attribute wie "Redakteur im Hamburger Jahreszeiten-Verlag" werden in Klappentexten renommierter Verlage wie Kiepenheuer & Witsch als Qualitätsmerkmal gehandelt. Diese Romane sind oft nicht anders als die der vor wenigen Jahren noch enthusiastisch verrissenen älteren Kollegen, aber die Rahmenbedingungen scheinen sich grundlegend geändert zu haben. Ein deutlicher Ausdruck für diese Entwicklung ist der Erfolg der Romanautorin Elke Schmitter: sie war schon länger als brillante Journalistin hervorgetreten, galt als Edelfeder bei Zeit, Süddeutscher oder taz - aber als im Jahr 2000 der Roman "Frau Sartoris" erschien, überschlugen sich die Kollegen vor Begeisterung, allen voran der große Fernsehkritiker. Schmitter lieferte das Rollenmodell für die vielen anderen, die in ihrem Fahrwasser mit diversen Romanen nachsegeln und den vermeintlich günstigen Wind nutzen. Elke Schmitter hat in ihrem zweiten Roman, "Leichte Verfehlungen", ein hübsches Genrebild von der Veränderung des Literaturbetriebs speziell in der deutschen Hauptstadt gezeichnet: "Aus Jeansträgern, die resignierten Blicks, ein wenig zynisch, mit Verläßlichkeit aber ironisch, am Rande der Gesellschaft standen, Weinglas und Zigarette in den Händen, in langsame Gespräche eher verlore