Deutschland vor Ort (gebundenes Buch)

Geschichte, Mythen, Erinnerungen
ISBN/EAN: 9783446206762
Sprache: Deutsch
Umfang: 416 S., 50 s/w Illustr., 50 Illustr.
Einband: gebundenes Buch
Was macht Deutschland aus? Wilfried F. Schoeller hat 33 Orte bereist, die einen bestimmten Aspekt Deutschlands repräsentieren: die Drosselgasse in Rüdesheim, die Paulskirche in Frankfurt, Schloss Lichtenstein, der Asperg, Buchenwald, Wandlitz und viele andere. Er beschreibt die Orte in wunderbar anschaulichen Essays und setzt dabei ein Mosaik deutscher Geschichte, Mythen und Erinnerungen zusammen.
Wilfried F. Schoeller, 1941 geboren, war Leiter der Abteilung ?Aktuelle Kultur? beim Hessischen Rundfunk/Fernsehen. Als Professor für Literatur des 20. Jahrhunderts lehrte er Literaturkritik und Medien an der Universität Bremen. Im Carl Hanser Verlag erschienen: Deutschland vor Ort. Geschichten, Mythen, Erinnerungen (2005), Alfred Döblin. Eine Biographie (2011) und Franz Marc. Eine Biographie (2016).
Gralsburg des Historismus Literaturschloß Lichtenstein Alles hat angefangen mit einem Roman, der nur als Sprosse auf der Leiter literarischen Erfolgs gedacht war: 1826 veröffentlichte der Hauslehrer Wilhelm Hauff aus Stuttgart, einigen Vertrauten als Musterschüler in Erinnerung, als Theologe auf dem Tübinger Stift, der Elite-Dressuranstalt des Landes, mit achtbarem Ergebnis promoviert, zu dieser Zeit hingegen für die Schriftstellerei beurlaubt und damit weit abseits von seiner vorbestimmten Bahn, einen kühl kalkulierten Schmachtfetzen. Der Roman 'Lichtenstein' war als 'romantische Sage aus der württembergischen Geschichte' an großgläubige Herzen und patriotische Gefühle adressiert. Der Roman führt in ein heroisch verklärtes Mittelalter hinein, präsentiert reichlich viel männliche Bewährung und weiblichen Adel, pochende Sehnsucht und ­verzehrende Blickwechsel. Über Abgründe an Eifersucht hinweg und durch Tränennebel hindurch führt er einen Ritter und ein Schloßfräulein zu idealer Ehe zusammen. Hauff hatte sich einiges vorgenommen: er wollte in Deutschland den Erfolg haben, den Walter Scott mit seinen 'Waverly Novels' in England erzielt hatte: 'Mein Entschluß stand fest; einen historischen Roman a la Walter Scott mußt du schreiben, sagte ich zu mir, denn nach allem, was man gegenwärtig vom Geschmack des Publikums hört, kann nur diese und keine andere Form Glück machen. Freilich kamen mir bei diesem ­Gedanken noch allerlei Zweifel; ich mußte die Werke dieses großen Mannes nicht nur lesen, sondern auch studieren, um ihm sein Geheimnis abzulauschen, und dann mußte ich irgendein Stück aus der Geschichte ausfindig machen, um es zu meinem Zweck zu benützen.' Machwerke solcher Art sind zum raschen Vergessen bestimmt. Im Fundus falscher Gefühle und herziger Verlogenheiten, die mitten in der Restaurationszeit zu einer vielgestaltigen Kunstmode aufblühten, wirkt heute alles verstaubt. Überdies ist nichts schwieriger, als einen Trivialroman haltbar und wetterfest für einige Jahrzehnte zu schreiben; unter diesem Gesichtspunkt ist die Leistung von Hedwig Courths-Mahler ebenso bemerkenswert wie die von Fontane. Aber der 24jährige Wilhelm Hauff legte einen Geniestreich vor. Dieser nachgeborene Spätromantiker aus der schwäbischen Provinz versammelte die Wonneschauer ganzer Leihbibliotheken in seinem Buch; er legte es als kompletten Spielplan zeitgenössischer Fluchtphantasien an. Die rührende Liebesgeschichte wurde mit dem Drama des irrenden, aber edlen Landesfürsten Ulrich von Württemberg aus der Reformationszeit verbunden. Er wird durch ein Heer des Schwäbischen Bundes 1519 vertrieben. Der edle Ritter Georg von Sturmfeder liebt die Grafentochter Marie von Lichtenstein, wechselt ihretwegen ins fürstliche Lager und hat entscheidenden Anteil an der Rettung des bedrängten Herrschers. Auf Schloß Lichtenstein winkt dafür ein unvergängliches Familienglück - ganz in der bürgerlichen Gloriole. ­Einige wenige historische Tatsachen leuchten im Halbdunkel der ­Erzählung als erhabene Sagenbilder auf. Die Ritter- und die Liebesgeschichte schlingen sich vor prächtigen Prospekten altdeutscher Masken- und Kostümfeste ineinander, laben sich an munter sprudelnden Kommentaren über vorbildlichen Anstand und rühmenswerte Sitte unserer Ahnen wie an einem moralischen Jungbrunnen. Als mythischen Gegenort zur hellen Burg gibt es das dunkle Versteck, die Nebelhöhle, den schwäbischen Kyffhäuser. Dort hat Wilhelm Hauff seinen Herzog Ulrich von Württemberg zeitweilig versteckt. Und so wird noch jedes Landeskind zu einem kryptonymen Ausflug verschleppt. Die Stalagmiten im Dämmerlicht wachsen dem Fremdenführer zu Kapelle und Kanzel, zu Schlössern und zu Goethe, Bischof mit Dienern und Fröschen aus. Seine Arme vollführen den Zickzack­taumel von Fledermäusen nach, während sich beim Besuchertrupp ein erdgeschichtlicher Grusel breitmacht. Früher haben die Fackeln die Sinterformationen unweigerlich verrußt, heute ist elektrisches Licht installier ...