Der Dichter und die Meerschweinchen (gebundenes Buch)

ISBN/EAN: 9783100495143
Sprache: Deutsch
Umfang: 288 S.
Einband: gebundenes Buch

Geflüchtet vor den Nazis, lebt der Dichter Clemens Teck während des Zweiten Weltkriegs mit seiner Familie in einem Boarding House in London und trifft dort auf Flüchtlinge aus Europa, »ein menschliches Wachsfigurenkabinett«. Um der »Stauung«, dem »schmerzhaften Leersein« zu entgehen, plant er eine »vivisektorische Novelle«, die nicht Abgelebtes erzählt, sondern in das Leben gleichgültiger Personen provozierend eingreift und sie aus ihrer Bedeutungslosigkeit aufscheucht: Der Schriftsteller als Experimentator, die Menschen als Objekte seiner handelnden Neugier.

Diese Geschichte, in deren Form sich die Vorliebe für die deutsche Romantik äußert: episodenhaft, vielfach gebrochen, Prosa und Lyrik munter mischend, ist auch ein Spiegelbild von Kerrs Leben im »Dauernd-Vorläufigen« des Exils. Sie zeigt den seiner Sprache, seiner Heiterkeit, seiner Erinnerungen noch immer mächtigen Kerr im Kampf gegen das Verstummen, seine Sehnsucht nach dem vormals unberechnet quellenden Leben und die »Abscheu vor dem einzig noch zu Erwartenden«.




Bitte des Verfassers Dieses Buch enthält nicht meine Geschichte. Sondern die Geschichte des Dichters Clemens Teck. Der Unterschied ist wesentlich. Manche meiner eignen Erlebnisse sind allerdings hineinverwebt. Die Erlebnisse des Schriftstellers Clemens Teck und meine greifen also manchmal ineinander. Doch, wirklich, das Erleben dieses Clemens Teck ist nicht meins - und meins war durchaus nicht das dieses Clemens Teck. Zwei Schicksale verhalten sich hier wie zwei wandernde Flächen. Sie berühren einander manchmal. doch sie entfernen sich stets wieder. Ich warne darum den gütigen Leser, mir nicht etwas auf die Rechnung zu bürden, das den Dichter Clemens Teck angeht. (So gewiß es wahrheitswidrig wäre, nicht Einiges von seinen Taten pflichtgemäß auf mich zu nehmen. Oder: nicht etwas von meinem Erlebten ihm zu lassen.) Es war halt Krieg - und die Beschaffenheit der Seelen sonderbar. Solche Fälle sind mit den Fingerspitzen anzufassen. - Umso weniger Grund, sie durcheinanderzubringen. Leser, Sie finden schon, ich weiß es, den rechten Weg. Haben Sie herzlichen Dank. Bitte des Dichters Clemens Teck Bin ich krank? Ich glaube nicht. Höchstens bin ich vom Krieg etwas zermürbt. Zermürbt. Nicht, daß ich ihn mitgemacht hätte - sondern eben weil ich ihn nicht mitgemacht habe. Wahrscheinlich ist es das. Mein Zustand ist nicht der eines Kranken; er ist nur unregelmäßig. Ich komme gegen meinen Willen dazu, mich zu beobachten. und merke dann Einiges, das ich früher nicht gemerkt habe. (Vielleicht, weil ich früher keinen Grund fühlte, mich zu beobachten.) Unregelmäßig. Doch bei alledem bin ich in einer entschiedenen Tätigkeitsstimmung. die mich fast überstark erfüllt. Etwas treibt mich zu seltsam kühnen, neuartigen Unternehmungen. Es rattert in mir. Ich bin zum Platzen voll von diesem Unbestimmten. Alles in allem: ich werde meinen Zustand mir selber darlegen. (Wozu ist man Schriftsteller?) Darlegen ist vielleicht: erkennen. Doch ist Erkenntnis denn auch Heilung? Aber tut mir Heilung not? Wovon sprech' ich denn? Wovon? Ich, der Schriftsteller Clemens Teck, suche mir in diesen Blättern klar zu werden über Einiges, das ich tat - oder tun wollte. Ich müßte lieber sagen: über Einiges, das mit mir geschah. Jedenfalls über etwas, das rätselhaft geblieben ist. Ich suche mich nicht zu entschuldigen. Ich will vielmehr aufdecken, was vorliegt. Auch was gegen mich vorliegt. Falls ein merkwürdiger Seelenzustand (im Krieg) nicht jene Vergebung in sich schließt, wofür der Priester das Wort 'absolvo te' mit drolliger Sicherheit zu äußern pflegt. Krieg hin, Krieg her. Ich beging Entweihungen gegen eine Tote; vielleicht Rohheiten gegen Lebende. Sonst nichts. Alles war schrecklich zugleich und spannend. Oft sogar ganz lustig. Und es stand im Dienst einer mir immerhin teuren Sache: der dichterischen. Ich kann trotzdem zu mir nicht sagen: 'Absolvo te.' Die Erzählung beginnt endlich Ich bin der deutsche Schriftsteller Clemens Teck. Lelia, meine Frau (eigentlich heißt sie Gertrud) trat ins Zimmer; sie sah strahlend-frisch und jung aus, - obschon wir bald große Kinder haben. Ja, sie war jung geblieben, fast selber ein Kind; stupsnasig, von zierlicher Gestalt, handlich. Doch der Glanz ihrer wachen Augen war nicht das Ergebnis einer freudigen Stimmung. Sie schien eher besorgt. Wertvolle Frauen nehmen die Dinge wohl schwerer als wir. 'Es ist nur ein halbes Leben in diesem Krieg', sprach sie, - 'dazu in einem Land, in dem man nicht geboren ist. Und wenn ich auch Englisch wie eine Engländerin spreche, dazu so Vieles an dem Land liebe: es bleibt ein Maß von Stumpfheit - wenn man doch gewissermaßen am Rande lebt.' 'Und in einem Boarding House', sprach ich, - 'in einem Gästehaus; wir sind eben deutsche Flüchtlinge.' 'Man möchte nur wieder', sprach sie (und sah sehnsüchtig in die Luft), - 'man möchte nur wieder sich lange vo
"Ein Vermächtnis innerhalb dessen, was wir die Literatur des deutschen Exils nennen." Günther Rühle