Wie die Menschheit die nächsten eine Million Jahre überlebt Eine Kolumne von Olaf Brill über »Scatter, Adapt, and Remember« von Annalee Newitz

8. Juli 2023

Ich habe ein Sachbuch gelesen, das zehn Jahre alt ist. Da das Thema noch die nächsten eine Million Jahre relevant bleibt, dachte ich mir, ich erzähle trotzdem davon.

»Scatter, Adapt, and Remember« der amerikanischen Schriftstellerin und Bloggerin Annalee Newitz handelt von den verschiedenen Katastrophen, die unseren Planeten bereits heimgesucht haben und die uns noch bevorstehen könnten, und wie man sie überlebt (oder auch nicht).

Jeder weiß Bescheid über das Aussterben der Dinosaurier und das Verschwinden der Neandertaler. Tatsächlich hat es immer wieder in der Geschichte der Erde Ereignisse gegeben, die die Umweltbedingungen so radikal verändert haben, dass die vorherrschende Spezies verschwunden ist. Beim großen Massenaussterben an der Grenze zwischen Perm und Trias vor rund 252 Millionen Jahren sind in einem Zeitraum von nur hunderttausend Jahren 95 Prozent aller Spezies ausgestorben, darunter die Trilobiten, die zuvor weit über 250 Millionen Jahre lang die Erde beherrscht hatten. Die Dinosaurier brachten es später auf immerhin 190 Millionen Jahre.

Immer wieder entstand danach etwas Neues, das sich an die geänderten Bedingungen angepasst hat, und immer wieder gab es Überlebende selbst der größten Katastrophen. So sind die heutigen Vögel ferne Nachfahren der Dinosaurier, und die DNS der Neandertaler lebt durch Vermischung mit den Homo sapiens vor zweihunderttausend Jahren in uns modernen Menschen fort.

Die Geschichte der Menschheit ist (bis jetzt) eine Erfolgsgeschichte – auch wenn sie mehr als einmal fast komplett ausgelöscht wurde. So gab es in den vergangenen zwei Millionen Jahren verschiedene »genetische Flaschenhälse«, bei denen jeweils nur noch wenige Tausend Individuen unserer Gattung auf der Erde lebten – was dazu geführt hat, dass die genetische Vielfalt bei uns Menschen, etwa im Gegensatz zu Mäusen, äußerst gering ist. Anders als manche Leute euch weismachen wollen, sind die Menschen, die heute so auf dem Planeten rumlaufen, also nicht besonders verschieden voneinander.

Welche Strategien haben uns bisher geholfen zu überleben, und welche globalen Gefahren bedrohen uns heute und in Zukunft? Wie kann es uns gelingen, ihnen zu entkommen und als Spezies weiterzubestehen, womöglich eine weitere Million Jahre lang? Denn einen Vorteil haben wir vor unseren ausgestorbenen Kollegen: Wir können solche Gefahren vorhersehen und sind womöglich sogar in der Lage, sie zu bekämpfen.

Ihrer Forschungsfrage geht die Autorin nach, indem sie Wissenschaftler der jeweiligen Fachgebiete auf der ganzen Welt befragt: von Paläontologen und Anthropologen über Vulkanologen und Virologen bis zu Stadtplanern und Astronomen. Dabei stellt sie uns diese Menschen in charmantem Plauderton so vor, als säßen wir mit ihnen am Küchentisch ihres Instituts und plauderten bei einer Tasse Tee über den Weltuntergang.

Das Buch ist in einem brillant leichtfüßigen Stil geschrieben, und dabei voller faszinierender wissenschaftlicher Details: Annalee Newitz weiß, wovon sie schreibt. Dass sie außerdem noch ein Nerd ist, zeigt sie durch zahlreiche Referenzen etwa auf Filme wie »Armageddon«, »King Kong und die weiße Frau«, »Jurassic Park« und die Science-Fiction-Romane der amerikanischen Schriftstellerin Octavia Butler.

Der Untertitel des Buchs lautet: »How Humans Will Survive a Mass Extinction«. Und ja: Newitz geht davon aus, dass künftige Katastrophen unausweichlich sind. Katastrophen von solchem Ausmaß, dass sie die Menschheit ausrotten oder den ganzen Planeten auf absehbare Zeit unbewohnbar machen könnten, wie Kriege, Meteoriteneinschläge, Gammablitze aus dem Weltraum, Ausbrüche von Supervulkanen oder Pandemien.

Könnte die Menschheit ein solches Ereignis trotzdem als Spezies überleben? Auf der Suche nach der Antwort auf diese Frage schaut Newitz sich an, wie Menschen – und Lebewesen überhaupt – bisher solche Ereignisse überlebt haben. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie dabei vor allem drei Strategien angewendet haben: »Scatter, Adapt, and Remember« – also Ausbreitung, Anpassung und Nutzung bisheriger Erfahrungen, um sich auf die Zukunft vorzubereiten.

Einen Meteoriteneinschlag oder einen Atomkrieg könnte die Menschheit zum Beispiel überleben, indem sie Hunderte oder Tausende Jahre in unterirdischen Städten überdauert – nur ein Teil der Menschheit freilich; es geht um das Überleben der Spezies, nicht das aller Individuen. Eine vollständige Zerstörung der Erde könnten wir überleben, wenn es uns gelingt, uns vorher in den Weltraum auszubreiten. Die Menschen, die sich unter solchen Umständen an die neuen Bedingungen anpassen müssten, würden sich vom heutigen Menschen so sehr unterscheiden wie wir vom Homo heidelbergensis – aber es wären immer noch unsere Nachfahren.

Annalee Newitz bietet einen faszinierenden Blick in die Zukunft, der die Perspektive vom unmittelbaren Tagesgeschäft der nächsten fünfzig oder hundert Jahre auf Zeiträume von Tausenden und Millionen Jahren erweitert – bis in die Zeit, in der vielleicht einmal die Nachfahren von uns heutigen Menschen die Beine ihrer Roboterkörper in die Methanseen des Saturnmondes Titan baumeln lassen. Wie werden sie sich an uns erinnern, fragt Newitz am Ende des Buchs. »Ich hoffe, sie denken an uns zurück als tapfere Kreaturen, die niemals aufgehört haben, die Welt zu erforschen.«

 

Das Buch liegt nur in englischer Sprache vor. Es kann bei verschiedenen Versendern als gebundenes Buch, E-Book und Hörbuch erworben werden.

Die Autorin ist nichtbinär und verwendet inzwischen das geschlechtsneutrale Singularpronomen »they/them«. Meine Verwendung des Pronomens »sie« und die Bezeichnung »Autorin« in diesem Text soll dies nicht missachten, sondern bezieht sich auf die Selbstbezeichnung im Buch, das im Jahr 2013 herauskam (dort »she«).

 

Annalee Newitz: Scatter, Adapt, and Remember: How Humans Will Survive a Mass Extinction

Verlag: Doubleday

Sprache: Englisch

Umfang: 305 Seiten

Erschienen am 14.5.2013

ISBN/EAN: ‎ 9780385535915