VIPs in der Provinz – Teil 1 Eine 80er-Jahre-Kolumne von Falk-Ingo Klee

19. September 2017

Wenn man in einer Stadt wie Gießen mit damals rund 70.000 Einwohnern in einem Autohaus arbeitet, ist die Chance, dort am Arbeitsplatz mal einem VIP zu begegnen, etwa so groß wie die Wahrscheinlichkeit, sechs Richtige im Lotto zu haben. Zwar weiß jeder Hesse, wo Gießen liegt, das neben einer Technischen Hochschule auch eine altehrwürdige Universität beherbergt, an der schon Geistesgrößen wie Liebig und Röntgen gelehrt haben. Kölnern, Hamburgern und Berlinern muss man aber erklären: »Gießen liegt in der Nähe von Frankfurt.« Die Nähe beträgt rund 70 Kilometer, also ist Gießen auch für Frankfurter Provinz.

Allerdings war Gießen auch ein Sehnsuchtsort und fast so bekannt wie die damalige Bundeshauptstadt Bonn – bei den Bürgern der damaligen DDR. In Gießen befand sich das Zentrale Notaufnahmelager der Bundesrepublik Deutschland, und wer aus der DDR flüchten, aus- oder übersiedeln konnte, kam hierher. Aber ein VIP? Fehlanzeige.

Als ATLAN-Autor in spe lud mich der Pabel-Moewig-Verlag nach München ein, um bei einer Autorenkonferenz die Weichen für die ATLAN-Serie ab Band 500 zu stellen. Dabei lernte ich auch meine etablierten Autoren-Kollegen kennen, darunter natürlich William Voltz, allgemein kurz WiVo genannt.

Sie wollten mehr wissen: »Wo kommst du her, was machst du?«

»Gießen in der Nähe von Frankfurt, ich arbeite in einem großen Autohaus.«

Dann wurde geraten. »Du bist Autoverkäufer.«

»Nein.«

Eher zögerlich: »Autoschlosser?«

»Nein.«

Damit war die Phantasie der Autoren, die jede Woche Zehntausende von PERRY RHODAN- und ATLAN-Lesern mit ihrer Ideenfülle begeisterten, auch schon erschöpft.

Keiner konnte sich wohl so recht vorstellen, dass in einem großen Autohaus – mit seinerzeit rund 170 Mitarbeitern und entsprechendem Umsatz zählte der Betrieb zu den zehn größten Opel-Händlern der Bundesrepublik – auch Menschen im Büro arbeiten. Allein in der Buchhaltung gab es neben anderem Personal Finanz-, Debitoren-, Lohn- und Maschinenbuchhalter, und ich arbeitete in der Leasingabteilung als deren Leiter.

Das blieb wohl bei WiVo haften. Irgendwann meldete er sich bei mir, weil er ein neues Auto brauchte. Und da ein Schriftsteller außer Kleinkram wie Schreibmaschinen-, Kohle- und Durchschlagspapier so gut wie keine Aufwendungen steuermindernd geltend machen konnte, hatte sein Steuerberater ihm geraten, das Fahrzeug zu leasen.

Es sollte Platz für die Familie bieten, durchaus sportlich sein und auch ausreichend Komfort besitzen. WiVo entschied sich für einen Monza mit 3-Liter-Motor und 180 PS in einem edlen Dunkelgrün, den wir an Lager hatten und der mit allem ausgestattet war, was Opels Top-Modell damals an Komfort und modernster Technik zu bieten hatte.

Da unser Autohaus selbst verleaste, also keine Bank oder Hersteller-Finanzierungsgesellschaft eingeschaltet wurde, hielt sich der Papierkram sehr in Grenzen und wurde vorab per Post abgewickelt. Wir vereinbarten einen Zulassungs- und Abholtermin des Wagens und ließen ihn zu – im Landkreis Offenbach, in dem der gebürtige Offenbacher Wilhelm Voltz wohnte. Nun muss man wissen, dass Offenbach (amtliches Kennzeichen OF) und Frankfurt (amtliches Kennzeichen F) als Nachbarstädte zwar unmittelbar aneinandergrenzen, ihre jeweiligen Bewohner sich seit alters her aber eher als Rivalen denn als Nachbarn fühlen.

Am Abholtag war ich logischerweise etwas aufgeregt. Zwar waren wir jetzt Autorenkollegen, aber für mich als PERRY RHODAN-Leser war WiVo eine Ikone, ein brillanter Autor und als Exposéautor ein genialer Geschichtenerfinder, für den ich Hochachtung empfand. Und jetzt war er hier in Gießen in unserem Autohaus, ein Promi, ein VIP. Dummerweise teilten weder mein Chef noch meine Kollegen meine Begeisterung, denn sie kannten weder die PERRY RHODAN- noch die ATLAN-Serie und demzufolge auch WiVo nicht.

Dessen ungeachtet hatte ich im Vorfeld dafür gesorgt, dass auch alles mit einem Tick mehr an Service als sonst schon üblich wie am Schnürchen klappte. Nachdem der Leiter unserer Neuwagen-Ablieferung WiVo die ganzen technischen Finessen des Autos erklärt hatte und er startbereit war, sagte ich ihm noch, dass wir den Wagen auf Firmenkosten vollgetankt und bereits Warndreieck und Verbandskasten in den Kofferraum gelegt hatten.

»Habt ihr auch eine Rolle Abdeckband reingelegt?«, wollte er wissen.

Verdutzt fragte ich: »Wieso?«

»Wenn ich nach Frankfurt fahre, muss ich auf meinem ›OF‹-Nummernschild das ›O‹ abkleben, sonst bekomme ich dort Prügel!«, sagte er grinsend und fuhr fröhlich winkend vom Hof.