Der organische Duden Eine Kolumne von Falk-Ingo Klee

20. Februar 2017

Deutsch war in der Schule mein absolutes Lieblingsfach. Was ist ein absolutes Lieblingsfach? Das ist ein Fach, für das man nur wenig tun muss, aber trotzdem gute Noten bekommt. Diktate beispielsweise waren immer eine sichere Bank, null Fehler waren die Norm.

Aber mein Deutschlehrer – nennen wir ihn Herrn S. – fand Defizite. »Du solltest dir mit der Schrift mehr Mühe geben!«, stand dann beispielsweise in roter Tinte unter der Arbeit mit null Fehlern und die Note »Eins minus«. Etwas hatte er immer auszusetzen, und immer gab es nur eine Eins minus. Irgendwann nahm ich allen Mut zusammen – Pädagogen waren damals noch eine papstgleiche unantastbare Institution – und fragte ihn, warum ich bei null Fehlern nur eine »Eins minus« bekam.

Die Antwort verblüffte mich. »Eine glatte Eins als Note bedeutet ›Besser als der Lehrer‹, und das kann bei einem Schüler nicht sein.«

Herrn S. hatte ich längst vergessen, als ich meinen ersten TERRA ASTRA-Roman endlich zu Papier gebracht hatte. Alle SF-Reihen und -Serien des damaligen Pabel-Verlags wurden von Günter M. Schelwokat (kurz GMS genannt) lektoriert. Er wohnte und arbeitete nicht in Rastatt, dem Verlagssitz, sondern ging seiner Tätigkeit voller Akribie (zeitgenössische Zungen sprachen von Pedanterie) als Außenlektor zu Hause in Straubing nach.

Es war schon einige Zeit her, dass ich das Manuskript abgeschickt hatte, als GMS bei mir anrief. Kein Wort zu Stil oder Inhalt des Romans, dafür aber ein Fehlerreport. Seite sowieso, dritte Zeile von oben hinter dem und dem Wort fehlt das Komma, drei Seiten weiter in der zweitletzten Zeile ein von mir übersehener Tippfehler (gleich Rechtschreibfehler) und so wurde der ganze Text durchgegangen, immerhin fast zweihunderttausend Anschläge umfassend. Vorwiegend nach Feierabend auf einer mechanischen Schreibmaschine zu Papier gebracht, ohne Korrektur- oder Fehlertaste. Tipp-Ex war noch nicht erfunden, radieren, durchixen oder darüberschreiben war bei Androhung der Folterstrafe verboten, Korrekturen am Rand, eventuell sogar noch mit Korrekturzeichen, waren eine heilige Handlung, die allein dem Lektor vorbehalten war.

Brav notierte ich alles und gab mich zerknirscht, was GMS mit pädagogischer Maßregelung für Grundschüler verband (ich war 31 Jahre alt!) und nicht vergaß, mich mit lehrerhafter Strenge eindringlich zu ermahnen, in Zukunft mehr Sorgfalt walten zu lassen. Da war er wieder, der längst vergessen geglaubte Herr S. in Reinkarnation.

Das Spiel wiederholte sich bei jedem abgelieferten Roman. Als mal wenig zu mäkeln war, redete GMS mir das Semikolon (Strichpunkt) aus. Ich verwendete es ab und zu gerne, weil es inhaltlich zusammenhängende Sätze nicht so stark trennt wie ein Punkt. GMS, den ich mittlerweile für einen wandelnden, sprich organischen Duden hielt, fand, dass dieses Satzzeichen weder Fisch noch Fleisch sei und ich anstelle des Semikolons einen Punkt verwenden sollte. Punkt!

Nur einmal verblüffte er mich, als er sagte: »Herr Klee, ich habe ausnahmsweise auch mal etwas von Ihnen gelernt!« Ich hatte »das Portable« geschrieben, GMS war sich sicher, dass es »der Portable« hieß, hatte aber noch mal im Duden nachgeschlagen und siehe da, sowohl der als auch das Portable waren möglich und richtig. Das vermeintliche Lob war natürlich ein vergiftetes Lob, denn »ausnahmsweise« besagt ja, sehr freundlich formuliert: »Da hat doch tatsächlich sogar ein blindes Huhn auch mal ein Korn gefunden!« Tja, Motivationskunst, Sensibilität und Feinfühligkeit gehörten nun nicht gerade zu den Qualitäten von GMS.

Ob es anderen Autoren-Kollegen besser oder schlechter erging als mir, weiß ich nicht, aber Ernst Vlcek muss sehr negative Erfahrungen mit GMS gemacht haben. Nun muss ich vorausschicken, dass Ernst Vlcek, ein beliebter PERRY RHODAN-Autor und langjähriger Exposéautor der Serie, Österreicher war, und tatsächlich nennt der Duden explizit für Österreich (und auch für die Schweiz) Wörter, Regeln und Schreibweisen, die nicht nur geduldet werden, sondern dort sogar verbindlich sind.

Nur: TERRA ASTRA, ATLAN und PERRY RHODAN sind deutsche Publikationen sprich österreichische Rechtschreibung, Grammatik und Wortschöpfungen sind hier falsch.

Einen Paradeiser-Saft (Tomatensaft) für Gucky, ein Drei-Deka-Steak (Deka ist eine österreichische Gewichtsbenennung für zehn Gramm) für einen Siganesen, und im Jänner (Januar) bricht Perry Rhodan auf in eine andere Galaxis – das geht nicht, weil in Deutschland unverständlich. Ach ja: In Österreich wäre meine Diktatnote der Einser gewesen, nicht die Eins. Unsere Nachbarn sprechen auch von »Zugsverspätung« anstatt »Zugverspätung«, aber von »Schmerzengeld« anstatt »Schmerzensgeld«, der »Akt« ist die »Akte«, und da heißt es »geschalten« und nicht »geschaltet«. Und »die Ausschank«, »das Keks«, »der Butter«, »das Teller«, »der Radio« oder »der Zwiebel«.

Vielleicht hatte Ernst Vlcek auch immer einen Einser im Diktat, und nun war das, was er in der Schule gelernt hatte und richtig war, auf einmal zumindest teilweise falsch. Und ich könnte mir vorstellen, dass GMS ihm das in Telefonaten akribisch aufgezählt und ihn dafür gerügt hat. Das muss dann natürlich schon sehr frustrierend gewesen sein.

Im Con-Buch von 1991 (zu 30 Jahren PERRY RHODAN) kam logischerweise auch Ernst Vlcek zu Wort, der als Autor ab 1971 für die Serie schrieb. Wie nannte er dort GMS? Auch einen organischen Duden? Einen Posbi der deutschen Rechtschreibung? Oder einen Rotstift-Kampfroboter? Nein, er bezeichnete ihn als »Sadist von Straubing«…

Falk-Ingo Klee