Der Redakteur erinnert sich: Am Frühstückstisch in Weiterstadt

27. Mai 2019

Es war ein typischer »Morgen danach«. Müde Menschen schlurften durch eine Wohnung, in der sie in Schlafsäcken und auf Iso-Matten übernachtet hatten. Manche duschten, einige wollten weiterschlafen, andere waren schon richtig unternehmungslustig. Es war der Sonntag, 6. März 1994, und ich hielt mich in Weiterstadt auf.

In dieser Stadt, einige Kilometer nördlich von Darmstadt gelegen, wohnte zu dieser Zeit mein alter Freund Hermann Ritter mit seiner damaligen Freundin. Er hatte seinen Geburtstag gefeiert, zu diesem Anlass waren einige Dutzend Menschen nach Weiterstadt gekommen. Wir hatten abends lang »Party gemacht« und einiges an alkoholischen Getränken konsumiert. Die Besucher aus der Region waren heimgefahren, aber gut ein Dutzend Menschen hatte bei Hermann und seiner Freundin übernachtet.

Ich zumindest wusste, dass ich am Morgen noch nicht »fahrfähig« war. Gut wäre es, so meine Überlegung, in aller Ruhe zu frühstücken und einige Tassen Kaffee zu trinken, und ich sollte vor allem ausnüchtern. Vorher durfte ich nicht mit dem Auto auf die Straße. Also duschte ich schnell, um das Badezimmer nicht über Gebühr zu belegen, und sah zu, dass ich in der Küche einen Platz fand.

Ich goss mir Kaffee in die Tasse, nahm mir einen Teller und ein Messer; damit platzierte ich mich so an den Tisch, dass ich in der Ecke saß. Die Dachschräge verlief über meine rechte Schulter und knapp über meinen Kopf. Aber das war mir egal – ich nahm mir eisern vor, mich von diesem Platz nicht vertreiben zu lassen. Dass ich an diesem Platz auch eingeengt sein würde, bedachte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

Langsam sammelten sich die anderen Übernachtungsgäste am Tisch; manche lehnten mit der Kaffeetasse am Schrank oder im Türrahmen. Hermann Ritter erwies sich als hervorragender Gastgeber, der unerschöpfliche Mengen an Brötchen, Käse, Marmelade und dergleichen auf den Tisch zauberte.

Nach einiger Zeit kristallisierte sich eine Gesprächsgruppe heraus, bestehend aus Science-Fiction-Fans, die sich schon lange kannten. Mit Hermann Ritter hatte ich unter anderem mehrere Cons in Freudenstadt organisiert, mit Günther Freunek jahrelang Fanzines gemacht. Martin Kempf publizierte den »Fandom Observer«, Manfred Müller arbeitete bei verschiedenen Fanzines mit. Wir alle waren an dem Projekt »FreuCon '92« beteiligt gewesen, aus dem vor zwei Jahren unversehens das bislang größte unabhängige Fan-Treffen in Deutschland geworden war.

Und nun sprachen wir über die Zukunft der Fan-Szene, die uns aus unterschiedlichen Gründen beschäftigte. Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt seit eineinhalb Jahren in der PERRY RHODAN-Redaktion, hatte aus dieser Perspektive viel mit Lesern zu tun. »Immer wieder rufen Journalisten an, die sich nach Fans in ihrer Region erkundigen, die sie interviewen wollen«, erzählte ich. »Da wäre es hilfreich, wenn man eine vernünftige Adressenliste hätte, mit der man arbeiten könnte.«

Ein anderes Thema in der Runde war, dass die Post wieder einmal die Gebühren für Büchersendungen erhöht hatte. »Wenn die Büchersendungen noch teurer werden, haben viele Clubs und Fanzine-Macher ein Problem«, wurde argumentiert.

Recht schnell kamen wir zu einem Ziel, das noch nicht konkret formuliert wurde: Eigentlich bräuchte man so etwas wie eine  Dienstleistungszentrale für Science-Fiction-Fans, über die man beispielsweise viele Fanzines abonnieren könnte. Man bekäme dann die Fanzines von verschiedenen Clubs und Herausgebern auf einmal geschickt, das würde Porto sparen.

Das fand vor allem Martin Kempf gut. Er hatte ab 1988 für mehrere Jahre mit dem »Fanzine Konsumenten Kreis« ein ähnliches Konzept angeboten. Es gab seiner Ansicht nach das Bedürfnis einer eher kleinen Gruppe von Science-Fiction-Fans, die sich über zusätzliche Fanzine-Lektüre freuen würde.

Das Problem war: Die deutschsprachige Fan-Szene war völlig zersplittert, viele kleine Organisationen oder Einzelkämpfer arbeiteten praktisch nicht zusammen. Zuletzt hatten beim FreuCon unterschiedliche Gruppen intensiv mitgewirkt.

Es half alles nichts: Ohne die PERRY RHODAN-Fans wäre eine solche Dienstleistungszentrale nicht zu schaffen – sie arbeiteten in vielen kleinen Clubs und in verschiedenen Projekten nebeneinander her. In der Folge diskutierten wir ausgiebig darüber, ob und wie man vielleicht einen PERRY RHODAN-Dachverband gründen könnte. Frühere Gründungen waren allesamt gescheitert, aus den unterschiedlichsten Gründen.

Aber die Vision fand ich toll: »Man könnte man mit einer sogenannten FanZentrale vielleicht ausgleichen, was ein großer Verlag nicht leisten kann.« Ich dachte an kleinauflagige Produkte, vielleicht neue ATLAN-Romane, die man mithilfe einer FanZentrale den PERRY RHODAN-Lesern anbieten konnte. Ich hätte es leichter, Autorinnen und Autoren etwa mit Fan-Romanen auszuprobieren – diese Möglichkeit gab es nicht mehr, seit Serien wie TERRA ASTRA oder ATLAN nicht mehr existierten.

»Schön wäre auch ein Magazin«, überlegte ich laut, »vielleicht ein Nachfolgeprojekt für das PERRY RHODAN-Magazin.«

Aber auch dieses Magazin sollte eher dem Dienstleistungsgedanken entsprechen. »Man braucht kein weiteres kritisches Fanzine«, argumentierte Hermann Ritter. Es gäbe schließlich das »Zykluszine« und die »PERRY RHODAN-Perspektive«. Was fehle, sei doch ein journalistisches Heft, das Hintergründe zur Serie und zur Science Fiction im Allgemeinen liefere.

Wir waren uns einig, zumindest in manchen Punkten. Eine FanZentrale – das wäre eine tolle Idee. Wenn man genügend Fans dafür begeistern könne, sei rasch eine »kritische Masse« erreicht, die ein Eigenleben entwickeln würde. Wir berauschten uns geradezu an unseren Ideen, ich notierte irgendwann alles, was gesagt wurde, saß in meiner Ecke, wo mich alle mit ihren Vorschlägen überhäuften, und trank sehr viel Kaffee.

Erst am späten Nachmittag fuhr ich heim. Aus den umfangreichen Notizen wollte ich ein Konzept formen. Wir hatten vereinbart, die Diskussion weiterzuführen, diesmal nicht am Küchentisch in Weiterstadt, sondern öffentlich. Und deshalb sollte ich das Konzept bei Cons im Sommer 1994 vorstellen, beim BiFiCon und beim ColoniaCon.

Ich war durchaus optimistisch, dass aus der Idee einer »Dienstleistungszentrale für Fans« noch etwas werden könnte ...

 

Klaus N. Frick