John Lanchester: Die Mauer Harter Blick in Großbritanniens Zukunft

23. Januar 2020

In einer nicht genau definierten Zukunft, vielleicht fünfzig Jahre von »heute« entfernt: Ganz Großbritannien ist von einer Mauer umgeben. Tag und Nacht patrouillieren schwer bewaffnete Frauen und Männer auf der Mauer. Ihr Ziel ist, alle möglichen Menschen davon zurückzuhalten, die Mauer zu überwinden, um ins Innere zu kommen. Das Einsatzziel der Verteidiger, wie sie auch genannt werden, ist eindeutig: Jeder der sogenannten Anderen ist zu töten, wenn er sich der Mauer nähert.

Joseph Kavanagh ist ein junger Mann, der zum Dienst auf der Mauer verpflichtet wird. Aus seiner Sicht wird erzählt, wie er seinen Dienst erlebt, wie er sich einfügt, wie er Freunde findet und wie er versucht, seine Pflicht zu tun. In der Logik seiner Heimat muss Großbritannien gegen die Anderen verteidigt werden, die Heerscharen von Flüchtlingen, die über die Welt irren und in der abgeschirmten Insel eine Hoffnung für ihr eigenes Überleben zu finden hoffen.

In seinem Science-Fiction-Roman »Die Mauer« wirft der englische Schriftsteller John Lanchester einen krassen Blick in eine Zukunft, die Großbritannien nach dem Brexit und inmitten einer ständigen Flüchtlingskrise zeigt.

Der Roman versucht nicht, eine hundertprozentig in sich stimmige Darstellung der nahen Zukunft zu vermitteln. Die Waffen- und Informationstechnik unterscheidet sich nicht von der, die in aktueller Zeit eingesetzt werden. Als Leser erfährt man nicht, wie das Land funktioniert, wie die Regierung beschaffen ist oder welche Mächte welche Ziele verfolgen. Weil die Perspektive immer ganz eindeutig auf die Figur des jungen Helden gerichtet ist, stört das nicht: Kavanagh weiß nicht so viel von der Welt, oder es interessiert ihn nicht.

Spannend ist der Blick der Hauptfigur auf die Menschen, die ihn umgeben. Hautfarbe und Religion sind egal, Menschen werden einfach in diejenigen unterschieden, die innerhalb der Mauer leben, und in die Anderen, also diejenigen, die außerhalb um ihr Überleben kämpfen müssen. So gehören zu den Wachleuten auf der Mauer auch Menschen anderer Hautfarbe, was kaum thematisiert wird. (Das passt nicht ganz zur aktuellen Brexit-Diskussion, in der es sehr wohl auch um Menschen anderer Hautfarbe geht, wenngleich nicht in erster Linie.)

Stilistisch hebt sich John Lanchester von gängiger Genre-Literatur ab; die Übersetzung macht auf mich einen sehr guten Eindruck. Der Autor setzt nicht auf Action, wenngleich es einige knallige Action-Szenen gibt. Auch seine Dialoge sind nicht so handlungstreibend, wie man es etwa von Thrillern kennt. Seine Hauptfigur reflektiert öfter, einzelne Absätze können sich über fast eine Seite erstrecken.

Trotzdem ist der Roman – der eindeutig für ein literarisches Publikum und nicht für die Science-Fiction-Szene geschrieben worden ist und auch so vermarktet wird – sehr spannend. Lanchester schafft es, Mitgefühl für seinen Helden bei den Lesern zu erwecken und eine Kultur lebendig zu machen, die sich manchmal wie ein zynischer Kommentar auf die heutige Zeit liest. (So gibt es »Fortpflanzer«, also Menschen, die zusammen sind und gemeinsam vielleicht einmal Kinder haben werden.)

»Die Mauer« ist letztlich ein politischer Roman, wenngleich es keinerlei Anmerkungen zur aktuellen Tagespolitik gibt. Lanchester stellt eine Welt vor, die so nie kommen wird, die man sich aber auch nicht wünschen kann. Er nimmt die aktuelle Diskussion in Großbritannien und projiziert sie in eine nahe Zukunft – das macht er spannend und mitreißend und zugleich in einem Stil, der sich nicht an Genre-Konventionen hält.

Man kann »Die Mauer« als spannende Science-Fiction-Unterhaltung lesen oder als Kommentar zur Politik. Aber der Roman wird einen bei der Lektüre nicht kalt lassen. Empfehlenswert!

Der Roman ist als Hardcover mit Schutzumschlag im Klett-Cotta-Verlag veröffentlicht worden und umfasst 348 Seiten. Das Buch kostet 24,00 Euro; mithilfe der ISBN 978-3-608-96391-5 kann man es in jeder Buchhandlung bestellen, auch bei Versendern wie dem PERRY RHODAN-OnlineShop. Das E-Book kostet übrigens 18,99 Euro und ist ebenfalls im PERRY RHODAN-OnlineShop – und sonstigen Shops – zu beziehen.

Wer sich für Hörbücher interessiert: Bei Random House Audio ist zu »Die Mauer« auch eine gekürzte Lesung erschienen, die von Johannes Klaußner eingesprochen worden ist. Die sechs CDs haben einen Umfang von rund sieben Stunden; als Verkaufspreis werden 25,00 Euro empfohlen. Zur Qualität kann ich leider nichts sagen.

Und wer auf die preisgünstige Taschenbuchausgabe warten möchte: Diese ist für den August 2020 geplant; sie wird bei Heyne erscheinen.

Klaus N. Frick

 

Die Mauer
Lanchester, John
Klett-Cotta
ISBN/EAN: 9783608963915
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