Die Redaktion empfiehlt: »Das Herz kommt zuletzt« von Margaret Atwood Düstere SF-Vision mit grotesken Zügen

27. Juli 2017

Sie gilt als eine der wichtigsten englischsprachigen Autorinnen Kanadas, wirkt wie eine seriöse alte Dame und mag es nicht, mit dem Begriff Science Fiction in Verbindung gebracht zu werden: Margaret Atwood, Jahrgang 1939, wurde in den 80er-Jahren vor allem durch die Verfilmung ihres Bestsellers »Report der Magd« einem breiten Publikum bekannt. Ihre zahlreichen Kurzgeschichten und Romane, die ein umfangreiches Themenspektrum abdecken, brachten ihr verschiedene Preise ein; immer wieder überrascht sie aufs Neue.

Zuletzt wurde bekannt, dass sie zur diesjährigen Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gewählt wurde. Der Preis wird zur Frankfurter Buchmesse verliehen, die Begründung verweist unter anderem auf das »politische Gespür« der Autorin sowie »ihre Hellhörigkeit für gefährliche unterschwellige Entwicklungen und Strömungen«. Das alles gilt für ihr aktuelles Werk, das ich mit großem Interesse und wachsender Spannung gelesen habe.

Mit »Das Herz kommt zuletzt« liegt ihr aktueller Roman in deutscher Sprache vor: eine bittere Dystopie, die in naher Zukunft spielt, in der Sex einen großen Raum einnimmt und in dem eine Gesellschaft geschildert wird, die sich so sicher nie entwickeln wird. Die Autorin mengt mit leichter Hand allerlei popkulturelle Bezüge – Elvis Presley und Marilyn Monroe etwa – in ihre bissige Science-Fiction-Version.

Die Geschichte beginnt in der nahen Zukunft. Wieder einmal wird Amerika von einer Wirtschaftskrise erschüttert, doch diesmal ist alles schlimmer als vorher. Marodierende Banden ziehen durch die Straßen, verarmte Menschen hausen in ihren Autos und versuchen, irgendwie zu überleben. Stan und Charmaine, die Helden des Romans, zählen zu jenen, die in Not geraten sind und nur mit Mühe durchkommen. Dabei träumen sie von einem ganz gewöhnlichen bürgerlichen Leben.

Sie lassen sich auf das »Positron Project« ein – ein Experiment, das seltsam ist: Abwechselnd wohnen sie als Häftlinge in einem Gefängnis oder außerhalb in einer Mustersiedlung. Doch dann geht einiges schief, es entwickeln sich sexuelle Beziehungen außerhalb ihrer bisherigen Ehe, und als die beiden erkennen, welches Spiel mit ihnen betrieben wird, wollen sie nur noch aus dem Projekt aussteigen. Das ist dann nicht ganz einfach, und Elvis-Presley-Klone spielen bei ihrer Flucht eine wichtige Rolle ...

Margaret Atwoods Roman greift in sarkastischer Weise aktuelle Entwicklungen auf: Wie wird sich eine Gesellschaft verändern, wenn die nächste Wirtschaftskrise nicht mehr in den Griff zu bekommen ist? Was ist eigentlich mit privat betriebenen Gefängnissen, und welche wirtschaftlichen Erwägungen treiben ihre Besitzer an? Und wieviel ist eigentlich die bürgerliche Moral noch wert, wenn die Menschen dieser nahen Zukunft jederzeit Sex mit Klonwesen haben können, die wie Elvis Presley oder Marilyn Monroe aussehen?

Erzählerisch verhält sich Atwood konventionell – das meine ich hier positiv. Ihre Geschichte bleibt jederzeit nachvollziehbar; was ihre Figuren umtreibt, ist nicht außergewöhnlich. Aus dem Rahmen bisheriger Konventionen fällt allerdings die Umgebung, in die sie ihre Geschichte steckt. Popkulturelle Bezüge passen weder zu einem »gewöhnlichen« Science-Fiction-Werk noch zu einem politischen Roman – aber so entzieht sich die Autorin geschickt jeglicher Vereinnahmung durch irgendwelche Gruppierungen.

Ihr »Das Herz kommt zuletzt« ist gelungene Unterhaltung mit augenzwinkerndem Humor, aktueller Gesellschaftskritik und einer Reihe von originellen Wendungen. Eine ernsthafte Dystopie ist der Roman nicht, das will die Autorin hier auch nicht anbieten. Sie zeigt eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, aus dem Blick von Menschen, die dem Leser in ihrer Normalität sehr nahe sind.

Mir hat das sehr gut gefallen. Wer gesellschaftskritische Romane mag, sollte sich das Buch zulegen; wer originelle Science Fiction mag, die nicht weit entfernt vom heutigen Zustand sind, für den ist der Roman sowieso spannend. Und alle anderen sollten endlich mal schauen, welche Qualitäten die Trägerin des diesjährigen Friedenspreises hat!

»Das Herz kommt zuletzt« ist als Hardcover mit Schutzumschlag erschienen und umfasst 400 Seiten. Mithilfe der ISBN 978-3-8270-1335-4 kann er in jeder Buchhandlung bestellt werden, ebenso bei Versendern wie Amazon. Er kostet 22,00 Euro. Das E-Book, das unter anderem für den Kindle angeboten wird, kostet 17,99 Euro.
 

Klaus N. Frick

 

Das Herz kommt zuletzt
Atwood, Margaret
Berlin Verlag GmbH - Berlin
ISBN/EAN: 9783827013354